Eine Tischkarte für die SS-Weihnachtsfeier

Im Rahmen der Recherchen zu den SS-Aufseherinnen des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück interviewten Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte die ehemalige SS-Aufseherin Anna Enserer (1919-2007). Das Gespräch fand in ihrer Wohnung statt. Während einer Interview-Pause  öffnete Frau Enserer eine Küchenschublade und holte diese kleine Tischkarte hervor. Ihr Name „Aufseherin Enserer (II), Anna“ steht mittig in gebrochener Schrift umrandet von grünen Tannenzweigen mit brennenden Kerzen. Rechts ist eine kindliche Engelsfigur mit blonden Haaren mit einer Geige in der Hand dargestellt. Vermutlich waren es Häftlinge, die diese Namenskarte für eine Weihnachtsfeier der Ravensbrücker SS fertigen mussten.

Spätestens ab Herbst 1941 wurden in mehreren Werkstätten und Arbeitskommandos (kunst-)handwerkliche und zeichnerische Auftragsarbeiten für die SS von Häftlingen hergestellt: nicht nur Spielwaren, Abzeichen oder Puppen, sondern auch Glückwunsch- und Weihnachtskarten oder – wie in diesem Fall die Tischkarten für die offizielle Weihnachtsfeier. Nur wenige dieser Artefakte, die Häftlinge für die SS produzierten sind im Bestand der Gedenkstätte zu finden. In Erinnerungsberichten oder Interviews finden sich jedoch immer wieder Hinweise auf diese kunsthandwerklichen Dinge. Im „Tausch“ gegen Materialien, Brot, Momente von Ruhe oder andere Verbesserungen der Lebensbedingungen im Lager wurden solche Artefakte auch „privat“ von SS-Angehörigen beauftragt.

Wer die Tischkarte gezeichnet hat, ist ungeklärt, ebenso in welchem Jahr diese Weihnachtsfeier genau stattgefunden hat. Anna Enserer war von 1940 bis zum Frühjahr 1942 in Ravensbrück beschäftigt, danach arbeitete sie bis zu ihrer Kündigung im November 1942 als Aufseherin im KZ Auschwitz. Die (II) hinter ihrem Namen verweist auf ihre Schwester Maria, die bereits seit 1939 als Aufseherin im KZ Ravensbrück beschäftigt war. Anna Enserer bewahrte die Tischkarte als ein Souvenir auf, als ein für sie positiv konnotiertes Artefakt aus dem Lager. Nach ihrem Tod haben Angehörige ihre Unterlagen an die Gedenkstätte übergeben.

Warum ist es interessant, sich mit diesem „Kitsch“ auseinanderzusetzen? Was können wir hier über soziale Gewalt- und Zwangsbeziehungen lernen? Solche und ähnliche Fragen möchten wir in unserem Projekt diskutieren und beantworten.

Tischkarte für die SS-Weihnachtsfeier | 1940/41 | Karton, Ölfarbe
Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, V3687 A3

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