ObjektBiografie*2: Puppen für Nelly Nilsen

Die Norwegerin Nelly Nilsen bekommt zu ihrem Geburtstag von anderen Häftlingsfrauen zwei selbstgemachte Puppen geschenkt. Doch was bedeutet der Besitz von Puppen und ihre Fertigung für die inhaftierten Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück? Welche Geschichten erzählt uns das „Puppenpaar“ wie sie im Depot verzeichnet sind?

Zwei Puppen

Puppenpaar, Foto: MGR V1836 D3

Unendlich fragil wirken die beiden Puppen, drapiert auf Krepppapier auf dem Archivtisch. Fast sieht es so aus als würden sie Händchenhalten. Ich darf Fotos machen und die Objekte genauer betrachten. Ich fühle mich etwas überfordert und empfinde Ehrfurcht. Dann verliere ich mich im Detailreichtum der Handarbeit:
Die Puppenfrau trägt ein trachtenähnliches Kleid. Der Unterrock ist hellgrau, die, an der Taille gekonnt geraffte Schürze, hellbeige. Sie wirkt abgenutzt, fleckig. Am Rücken ziert eine große rote Schleife aus Filz den Rock. Sowohl Schürze als auch Rock sind bodenlang, aus robustem Stoff. Die Bluse hingegen ist aus feinerem Leinen und mit Feldblumen versehen: eine blaue Kornblume, Getreideähren, Klatschmohn. An den Ärmeln ist die Bluse mit Stickereien verziert. Die Bluse ist hochgeschlossen und hat auf der Vorderseite am Kragen zwei Schleifen. Um den Hals der Puppe liegt eine Kette aus aufgefädelten Kügelchen aus Aluminiumfolie. Die Puppenfrau hat helle Haut und ihr Gesicht ist gestickt. Sie hat blau-graue Augen, Unter- und Oberlid sind durch eingestickte Linien angedeutet. Der Mund ist in ausgebleichtem Rot eingestickt und die Wangen der Puppe wirken rougiert.

Puppe

Puppe, Foto: MGR/SBG V 1836 b D3

Die Nase ist erhaben, steht hervor. Fast wirkt es karikativ. Unter dem voluminösen Hut spitzen blonde Haare hervor, vermutlich Echthaar. Der Hut ist in ausgeblichenem Grün gesäumt und besteht aus einer Ansammlung geknüpfter, bunter Wollreste in orange, blau, beige, rosa und hellbraun. Anstellte von Händen hat die Puppenfrau rote Filzfäustlinge an und an den Füßen trägt sie Schuhe aus demselben roten Filz. Auf dem Schuhrücken prunkt ein Quast aus grauen Fäden.

Im Gegensatz zu der Puppenfrau wirkt der Puppenmann schlicht. Er ist deutlich abgegriffener und fleckiger. Er trägt eine kurze Jersey-Hose in vermutlich ehemals dunkelgrau. Sein Hemd ist sandfarben, mit hellblauem Hahnentrittmuster und einem roten Schlips. Der Puppenmann hat eine dunkle Hautfarbe. Er hat Augenbrauen aus schwarzem Garn und mandelförmige Augen. Sein Mund ist breit, etwas zu breit, in geblichenen rot und durch weißes Garn sind seine Zähne angedeutet. Nase wie Ohren sind erhaben, wirken wie bei der Puppenfrau beinahe karikativ. Der Puppenmann trägt eine rot-weiß gestreifte Schirmmütze und seine dunklen, kurzen Haare sind geknüpft. An seinem rechten Pendelbein aus braunem Stoff baumelt ein aufwendig geschusterter Schuh. Er ist aus rotem Stoff mit sandfarbenen Punktemuster und hat eine Sohle aus kork- oder spanholz-ähnlichem Material. Am linken Pendelbein fehlt der Schuh.

Auch wenn seine Macherin dies vielleicht nicht intendierte, reproduziert der Puppenmann wegen des breiten roten Mundes zusammen mit seiner schwarzen Hautfarbe rassistische Stereotype, die sich aus weitverbreiteten zeitgenössischen Bildern und Darstellungen speisen. Ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden stereotype Darstellungen von Menschen mit dunkler Hautfarbe in Spielzeug und Büchern für junge weiße Menschen immer häufiger verwendet und verfestigten weitverbreitete rassistische Vorurteile schon im Kindesalter. Auch wenn nicht geklärt werden kann, ob die Macherin des Puppenmanns bewusst „rassistisch“ handelte oder unbewusst die rassistischen Stereotype in ihrer Handarbeit reproduzierte, gilt es, diese ungeklärte Frage stets mitzudenken.

Nachdem ich mir das Puppenpaar im Detail angesehen habe, beginne ich mit der Archivrecherche. Ich will mehr über die Produzentinnen und die ehemalige Besitzerin der Puppen herausfinden.

Die Macherin des Puppenmannes ist Mathilde Reichelt. Bei meiner Archivrecherche in der Gedenkstätte finde ich heraus, dass sie Krankenschwester war und aus Norwegen kam. Am 6. Januar 1942, mit nur 21 Jahren, wird sie von den Nationalsozialisten im Zuge des Nacht-und-Nebel-Erlasses verhaftet und nach Deutschland verschleppt. Adolf Hitler verordneten den Nacht-und-Nebel-Erlass am 7.12.1941 als geheime Richtlinien für die Verfolgung von vermeintlich Straftaten gegen „das Deutsche Reich“ oder die Besatzungsmacht. In Folge des Erlasses verschleppten die Nationalsozialisten ca. 7.000 des Widerstands verdächtige Personen aus Frankreich, Belgien, Luxemburg, den Niederlanden und Norwegen nach Deutschland und hielten sie dort fest, ohne den Angehörigen Auskunft zu geben. Das spurlose Verschwinden diente als Abschreckung. Der Erlass zählt als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Am 10. Oktober 1943 wird Mathilde Reichelt im Zuge dieses Erlasses nach Ravensbrück deportiert. Dort wird sie verpflichtet im „Kistenkommando“ der Stoffweberei zu arbeiten und Kisten mit Garnspulen zu schleppen. Auch die Macherin der Puppenfrau, die Polin Olenka Kmicik aus Posen arbeitete – vermutlich sogar als Funktionshäftling – im „Kistenkommando“. Womöglich gelangten die beiden Frauen über die Stoffweberei an Stoffe, Fäden und Watte, die sie für die Puppen benötigten. Möglich ist auch, dass sie die Rohmaterialien gegen Essen eintauschten. Ich will an dieser Stelle betonen, dass die Beschaffung der Materialien sowie das Nähen der Puppen unter Strafe stand und so ein Akt des Widerstandes war.

Zu ihrem 20. Geburtstag, am 26. Juli 1944, schenkten Mathilde Reichelt und Olenka Kmicik Nelly Nilsenzusammen mit anderen norwegischen Häftlingsfrauen die fertigen Puppen. Die norwegische Kontoristin kam am 22. Mai 1943 mit 16 anderen Frauen, mit 18 Jahren als jüngste unter ihnen, nach Ravensbrück. Wie Olenka Kmicik und Mathilde Reichelt arbeitete auch sie im „Kistenkommando“. Sowohl Nelly Nilsen als auch Mathilde Reichelt wurden am 8. April 1945 im Rahmen der Rettungsaktion „Weiße Busse“ oder auch „Aktion Bernadotte“ des Schwedischen Roten Kreuz befreit und nach Ramlösa Brunn, Schweden gebracht.
Nelly Nilsen nahm das Puppenpaar sowie ein kleines Büchlein mit Gedichten aus dem Lager mit. Später war sie langjähriges Mitglied und norwegische Vertreterin des „Internationalen Ravenbrück Komitees“ (IRK), besuchte die Gedenkstätte und äußerte sich in den norwegischen Medien zu den Verbrechen des Nationalsozialismus.

Nachdem ich einiges über die Frauen herausfinden konnte, widme ich mich erneut den Puppen und deren Biografie. Objektbiografien lassen sich in eine Herstellungs-, eine Gebrauchsphase und eine Nachgeschichte unterteilen: Die Herstellungsphase des Puppenpaars umfasst die Fertigung durch Mathilde Reichelt und Olenka Kmicik in Ravensbrück, vermutlich im Frühsommer 1944. Die freiwillige Handarbeit, die Herstellung und Gestaltung des Puppenpaars kann für die beiden Frauen Ausgleich und Ablenkung vom Lageralltag gewesen sein. Persönliche Gegenstände im Lagerkontext zu erschaffen, ist zugleich ein Ausdruck von Selbstbehauptung und Überlebenswillen. Denn durch die Puppen hinterließen Mathilde Reichelt und Olenka Kmicik Spuren ihrer selbst und erschuf etwas Schönes. Wie musizieren, Gedichte rezipieren, Festen feiern oder malen ist die Herstellung des Puppenpaares eine kulturelle Handlung, welche die Inhaftierten der Endindividualisierung des Lagers entgegensetzten.

Die Möglichkeit, die Puppen herzustellen, war jedoch ein Privileg: Nur sehr wenigen Inhaftierten waren die körperlichen, geistigen, materiellen und zeitlichen Voraussetzungen gegeben, persönliche Objekte zu fertigen.
An die Herstellungsphase schließt die Gebrauchsphase an: Zusammen mit anderen Frauen schenkten Mathilde Reichelt und Olenka Kmicik Nelly Nilsen die Puppen zu ihrem Geburtstag. Womöglich stärkte der Akt des Schenkens die Beziehung unter den Frauen. Dinge zu besitzen – Schönes – war etwas Außergewöhnliches im Lager und konnte eine Art Reindividualisierung bedeuten. Spielzeug, vor allem Puppen, können eine therapeutische Wirkung haben: Die Besitzerin kann eine innige Beziehung aufbauen, ihnen Gefühle und Ängste anvertrauen. In den Puppen kann Beständiges gefunden werden, emotionale Sicherheit, ein seelischer Zufluchtsort. Außerdem können die Puppen durch ihr Aussehen und ihre Kleidung an das Leben vor dem Lager erinnern.

Mit der Befreiung und den darauffolgenden Jahren änderte sich womöglich die Bedeutung des Puppenpaares für Nelly Nilsen. Vielleicht wurden sie zum Erinnerungsstück an die Zeit in Ravensbrück, vielleicht verloren sie auch an Bedeutung?

Am 24. Mai 1996 übergab Nelly Nilsen die Puppen an die Gedenkstätte und die Nachgeschichte der Objekte beginnt. Sie sind nun Teil der Sammlung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Sie sind nun Artefakte, als Hinterlassenschaften menschlichen Wirkens für eine breite Öffentlichkeit und nachfolgende Generationen gesichert.

So unendlich fragil wirken sie, die Puppen, auf dem Archivtisch auf Krepppapier drapiert. Fast sieht es so aus als würden sie Händchenhalten. Meine Ehrfurcht vor den Objekten ist sogar gewachsen, nun, da ich ihre lange Geschichte kenne. Ich habe versucht diese aufzuarbeiten und euch zu erzählen und dadurch auch ein Stück weit die Geschichte von Mathilde Reichelt, Olenka Kmicik und Nelly Nilsen.

Puppenpaar | Garn, verschiedene Textilien, Kork | um 1944 | ca. 35 cm | Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück V1836a-b

Zur Autorin:
Miriam Schaptke studiert Public History im Master an der Freien Universität in Berlin. In ihrer Bachelorarbeit hat sie sich mit dem, in der DDR erschienenen Magazin „Sibylle – Zeitschrift für Mode und Kultur“ beschäftigt. Insbesondere hat sie sich dabei mit den, in der Zeitschrift veröffentlichten Frauenporträts in Beziehung zum „offiziellen Frauenleitbild der SED“ auseinandergesetzt.  Für ihre Masterarbeit plant sie ebenfalls ein geschlechtergeschichtliches Thema.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.