ObjektBiografie* 3: „Für immer mutig“

Eine kleine Aluminiumschachtel nutze der Kommunist Alexander Bolzmann während seiner Haft im KZ Sachsenhausen als Rasieretui. Zu diesem Zweck diente es auch nach seiner Befreiung.

Aluminiumschachtel, verziert

Das Rasieretui. Foto: Johann Henningsen, GuMS 10.00126

Als die sowjetischen Verbände der 1. und 2. weißrussischen Front im Frühjahr das damalige „Gau Mecklenburg“ erobern, treffen sie immer wieder auf KZ-Häftlinge. So auch am 1. Mai 1945, als ein Trupp von Rotarmisten in den Wäldern von Schwerin eine große Gruppe von Gefangenen befreit. Diese waren aus den KZ Sachsenhausen und Ravensbrück in einem zweiwöchigen „Todesmarsch“ hierher gelaufen. Viele Häftlinge waren auf dem Weg an Hunger und Entkräftung gestorben oder von der SS ermordet worden.

Unter den befreiten Gefangenen ist Alexander Bolzmann. Er hat es geschafft, den „Todesmarsch“ zu überleben, „mit einem Gewicht von 98 Pfd. aber mit dem Geist eines Kommunisten“ (1). So beschreibt Bolzmann es in einem 1963 verfassten Bericht. Er schreibt auch, dass er an diesem Tag „nichts weiter als die KZ-Häftlingskleidung“ besaß. Wahrscheinlich ist hingegen, dass er zu diesem Zeitpunkt tatsächlich mindestens einen Gegenstand aus seiner KZ-Haft besitzt.

Dabei handelt es sich um eine kleine Schachtel aus Aluminium, in der Bolzmann sein Rasierzeug aufbewahrt. Das etwa handtellergroße Etui liegt sehr leicht in der Hand. Sofort ins Auge fällt die auf der linken Hälfte des Deckels schräg angebrachte Gravur „1943“. Sowohl der Deckel als auch die Seiten, Unterseite und die Scharniere sind mit Gravuren verziert. Auffällig sind weiterhin die fein gearbeiteten Scharniere, von denen Schachtel und Deckel zusammengehalten werden. Der Mechanismus funktioniert auch über 70 Jahre nach Herstellung der Dose einwandfrei.

In der Sammlung der Gedenkstätte Sachsenhausen finden sich zahlreiche weitere Schachteln, die ähnliche Maße haben und ebenfalls aus Aluminium gefertigt sind. Bolzmanns Etui unterscheidet sich von diesen Vergleichsobjekten in zwei Punkten: Es ist als einziges nicht nur mit Mustern, sondern auch mit Schrift verziert und hat als einziges Scharniere. Offen ist die Frage, warum Bolzmann eine so besondere Schachtel besessen hat. Außerdem war im KZ der Besitz von Hygieneartikeln den Gefangenen verboten. Warum Bolzmann überhaupt Rasierzeug besaß, das er verstauen musste, bleibt unklar.

Auch ob Bolzmann die Schachtel selbst gefertigt hat, oder von wem er sie bekommen hat, wissen wir heute nicht. Hergestellt wurde sie vermutlich von Gefangenen im Sachsenhausener „Kommando Flugzeug-Heinkel-Werke“, in dem auch Bolzmann eingesetzt war. In diesem Kommando mussten KZ-Häftlinge bereits seit 1936 für eines der damals größten deutschen Flugzeugkonzerne, die „Ernst Heinkel Flugzeugwerke“ Zwangsarbeit leisten. Der Unternehmensgründer Ernst Heinkel und die Leitung der Flugzeugwerke waren aus ökonomischen Interessen „willige Partner des NS-Regimes“ (2) geworden.

Gerahmtes Porträt

Bolzmann als junger Matrose Foto: Irene Müller-Hartmann (Privatarchiv)

Wir wissen, dass Bolzmann die Schachtel bis zu seinem Tod weiter als Etui für seine Rasierutensilien nutzt.  Das berichtet seine Tochter Irene Müller-Hartmann. Sie ist es, die das Objekt 2010 der Gedenkstätte Sachsenhausen übergibt, wo es seitdem im Depot aufbewahrt wird. Irene Müller-Hartmann hat zur Biografie ihres Vaters umfangreiche Archivrecherchen unternommen und die Ergebnisse der Gedenkstätte Sachsenhausen zur Verfügung gestellt. Auf ihren Recherchen beruht auch dieser Text.

In dem oben zitierten Aufsatz erzählt Alexander Bolzmann, wie er nach seiner Befreiung am 1. Mai 1945 an einen anderen Tag denken muss, „wo das Gefühl der Freiheit in mich [sic!] aufloderte.“ Als junger Matrose der deutschen Kriegsmarine nahm er 1918 am Kieler Matrosenaufstand teil. Bolzmann schreibt dazu: „Die Kriegstreiber von damals sind die gleichen von heute. Sie wechselten nur die Maske. Zweimal den Weg über Blut und Tränen. Zweimal Niederlagen der deutschen Militaristen.“

Nach der niedergeschlagenen Revolution 1918/1919 schließt Bolzmann sich der KPD an, nimmt an bewaffneten Auseinandersetzungen teil, wird verhaftet, arbeitet nach seiner Entlassung für den Abwehrapparat der Partei und setzt diese Tätigkeit auch nach 1933 fort. 1936 wird er erneut inhaftiert, wegen „Hochverrats“ verurteilt und 1942 in das KZ Sachsenhausen gebracht. In seinen eigenen Worten war dies „ein Weg als Kämpfer der Arbeiterklasse, als Kommunist, der Härte verlangt.“

Nach der Befreiung meldet sich Bolzmann auf der nächsten sowjetischen Kommandantur und er beginnt seinen Beitrag dazu zu leisten, wie er schreibt, „die heutige Arbeiter und Bauernmacht aufzubauen.“ Dazu kommt die Herausforderung für die Gefangenen, nach der neunjährigen Haftzeit „wieder Kulturmenschen zu werden“.

Der „Parteiarbeiter“, so bezeichnet er sich selbst, stellt sich dieser Herausforderung. Als Stadtverordneter für die SED in Meyenburg, als Kreisinstrukteur der Gesellschaft der deutsch-sowjetischen Freundschaft in Wittenberge, oder als Sachbearbeiter im Rat des Kreises Perleberg. Nachdem er mit 69 Jahren pensioniert wird, arbeitet Bolzmann weiter für die Partei und spricht als Zeitzeuge vor Schulklassen über sein Leben. Von diesem lebenslangen Engagement zeugen zahlreiche Auszeichnungen und Ehrenurkunden, die Bolzmann am Ende seines Aufsatzes aufzählt.

Die Aluminiumschachtel muss Bolzmann nach 1945 bei jeder Rasur an seine KZ-Haft, an die ermordeten Mithäftlinge, Kameraden und Freunde erinnert haben. Heute lässt sie sich auch als Symbol der Biografie eines überzeugten Kommunisten lesen, der von der Novemberrevolution bis in die DDR Teil der Arbeiterbewegung ist.

Bolzmann selbst schreibt dazu: „Auch mein Weg nach 1945 ist nicht immer glatt gegangen. Es gab Anfeindungen, manchen Menschen war ich im Wege. So manche Steine mußte ich beseitigen. Das ist nun mal so im politischen Kampf.“

Aus den Recherchen seiner Tochter, Irene Müller-Hartmann, wissen wir, welche „Anfeindungen“ Bolzmann hier andeutet. 1947 wird er auf Veranlassung eines CDU-nahen Staatsanwaltes zusammen mit anderen ehemaligen KZ-Häftlingen erneut inhaftiert. Dazu kommen Konflikte in der eigenen Partei. 1950 bekommt Bolzmann Ärger mit der für die Ostprignitz zuständigen Leitung seiner Partei, muss umziehen und wird kurzzeitig aus der Partei ausgeschlossen.

Von diesen Vorfällen schreibt Bolzmann nicht. Heute können wir nur fragen, was die erneute Verhaftung 1947 und die innerparteiliche Repression Anfang der 1950er Jahre für den Kommunisten bedeutet haben müssen. Wir können fragen, was der Besitz eines Gegenstandes aus der KZ-Haft in diesen Kämpfen bedeutet haben mag. In einer Stellungnahme zu den innerparteilichen Maßnahmen gegen ihn spricht Bolzmann von „Gestapo-Methoden“ und der „Vernichtung“ der Alten.

Alexander Bolzmann ist am 26. 11. 1971 in Wittenberge verstorben. In einem Brief aus dem Gefängnis Moabit an seine erste Frau, Else Borutzki, schrieb er 1938: „Also, für immer mutig, dann geht alles gut.“

Schachtel mit Deckel | 1943 | Aluminium | Depot der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, 10.00126

 

(1) Dieses und alle folgenden Zitate stammen aus: Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, Archiv, P 3 Bolzmann, Alexander/2, unpaginiert. Der zitierte Aufsatz war in seiner Gänze vermutlich nicht für die Veröffentlichung bestimmt. Der genaue Verwendungszweck ist unbekannt. Einzelne Ausschnitte sind am 20.3.1965 in der Neuen Prignitz, einer Beilage der Schweriner Volkszeitung, erschienen. Offensichtliche Fehler sind stillschweigend korrigiert, Eigenheiten im Ausdruck wurden beibehalten.
(2) Fröhlich, Roman: „Der Häftlingseinsatz wurde befohlen.“ Handlungsspielräume beim Einsatz von Häftlingen des KZ Sachsenhausen im Heinkel-Flugzeugwerk Oranienburg, Berlin 2018, S. 425.

 

Zum Autor:
Johann Henningsen studiert im MA Public History an der FU Berlin und forscht aktuell zu Betroffenenperspektiven auf das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992. Als freier Bildungsreferent arbeitet er in verschiedenen Projekten, vor allem zu den Themen Nationalsozialismus und Antisemitismus.

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.