Ein Notizbuch über das Marschieren, Hungern und Hoffen

Eine polnische Überlebende hält ihre Gedanken und Erlebnisse um die Tage ihrer Befreiung fest. Ich durfte ihr Notizbuch im Rahmen dieses Projektes gemeinsam mit meiner Familie übersetzen.

Handgefertigtes Notizbuch. Foto: GuMS/SBG 95.00107.2

Handgefertigtes Notizbuch. Foto: GuMS/SBG 95.00107.2

Es ist ein recht unscheinbares Büchlein, das Christiane uns in unserer Webex-Sitzung präsentiert. Klein, bräunlich, nur mit einer Schnur zusammengehalten. Sie sagt dazu, dass es auf Polnisch verfasst wurde und ein kleines Überraschungspaket ist – niemand weiß genau, was darin steht.

Das hat eigentlich schon gereicht, um mich davon zu überzeugen, mir dieses Büchlein genauer anzuschauen.

Meine Familie kommt ursprünglich aus Polen, ich spreche – zugegebenermaßen mehr schlecht als recht – ein wenig Polnisch und ich wollte mich dieser Aufgabe annehmen.

Die Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen hat das Büchlein im April 1995, also knapp 50 Jahre nach Kriegsende, aus dem Nachlass von Natalia Malinowska erhalten. Laut der Datenbank der Gedenkstätte wird sie während des Warschauer Aufstandes verhaftet, anschließend in das Außenlager des KZ Sachsenhausen in Berlin-Hennigsdorf überführt. Dort ist sie im Arbeitskommando bei einer Rüstungsfabrik der AEG. Kurz vor Kriegsende wird sie auf einen Todesmarsch geschickt, bevor sie im Mai 1945 von der US Army bei Schwerin befreit wird.

Es ergibt sich recht schnell, dass meine Hauptaufgabe das Transkribieren und Übersetzen des Büchleins sein wird.

Bei meinem ersten Archivbesuch in Sachsenhausen, kurz vor dem zweiten Lockdown, sitze ich in einem kühlen Raum an einem PC. Der Mitarbeiter des Depots hilft mir ein wenig, mich mit der Archiv-Software zurechtzufinden. Aber: leider gibt es fast keine Informationen über Natalia Malinowska, die ich nicht schon habe.

Dafür kann ich mir aber das Notizbuch anschauen und es fotografieren. Auf einen ersten Blick habe ich erkennen können, dass es sich auf den ersten beiden Seiten um ein Gebet handelt. Ab der dritten Seite muss es so etwas wie ein Briefentwurf an ihre Schwester sein. In der hinteren Hälfte erkenne ich einen Kalender und einzelne Worte wie “Warschauer Aufstand”, “Marschieren” und “Suppe”.

Über Weihnachten fahre ich zu meiner Familie. Die Tage zwischen den Jahren nutze ich, um gemeinsam mit ihnen das Büchlein zu transkribieren und zu übersetzen. Zuerst habe ich mit meinem Vater angefangen zu entziffern, was die Verfasserin vor etwa 75 Jahren geschrieben hat. Die Handschrift ist leicht verschnörkelt und vor allem schon sehr verblasst, insgesamt also nicht mehr gut lesbar. Aber dann kommt meine Mutter dazu und sie kann die Handschrift erstaunlich gut lesen. Mit ihr transkribiere ich drei Nachmittage lang die noch vorhandenen 33 Seiten des Büchleins. Einen Nachmittag brauchen wir dann nochmal für die Übersetzung, bei der wir am Ende noch meinen Großvater mit ins Boot holen, um ältere Begriffe zu klären.

Zum Inhalt des Notizbuchs

Gebet. Foto: GuMS/SBG 95.00107.2

Gebet. Foto: GuMS/SBG 95.00107.2

Mein erster Eindruck hat sich bestätigt. Auf den ersten beiden Seiten ist ein Gebet an die Heilige Maria gerichtet und darauf folgt ein Brief an die Schwester der Autorin. Dieser geht fließend über in einen Erinnerungsbericht der Wochen und Tage vor und nach der Befreiung.

Die Verfasserin spricht von kilometerlangen Märschen, dann davon, dass sie im Auto mitgenommen wird, weil sie nicht mehr laufen kann. Sie reist tagelang weiter, bis sie im zertrümmerten Berlin ankommt. Die Heimreise geht weiter, bis sie schließlich mit einem Zug nach Poznań fährt. Darauf folgen viele leere Seiten.

Der zweite Teil des Büchleins beginnt als Kalender. An dieser Stelle wird bei mir die Frage nach der Autorinnenschaft aufgeworfen. Denn: Zwar decken sich einige Stationen, nicht aber die Daten mit den Informationen, die ich aus dem Datenbankeintrag der Gedenkstätte zu Malinowska habe.

 

Kalendernotizen. Foto: GuMS/SBG 95.00107.2

Kalendernotizen. Foto: GuMS/SBG 95.00107.2

Zur Biografie
Laut Kalender wird die Autorin am 1. August 1944 beim Warschauer Aufstand verhaftet, danach über das Durchgangslager 121 Pruszków zunächst nach Groß Rosen, am 7.9. nach Ravensbrück deportiert. Am 22.9. wird sie aus Ravensbrück abtransportiert und am 23.9. kommt sie in Hennigsdorf an.

Laut Datenbankeintrag der Gedenkstätte wird Malinowska aber am 2. August verhaftet, am 6.9. nach Ravensbrück deportiert und am 23.9. nach Hennigsdorf überführt. Es passt also nicht richtig. Gegebenenfalls stimmen aber auch die Daten aus dem Datenbankeintrag nicht.

Hat Natalia Malinowska die Daten durcheinandergebracht? Das bezweifle ich, bei dieser gewissenhaften Niederschrift des Geschehenen. Die andere Möglichkeit ist: Natalia Malinowska ist nicht die Autorin.

Zurück zum Text: Am 21. April wird die Verfasserin auf einen Todesmarsch geschickt. Sie berichtet wieder von kilometerlangen Märschen – Tag ein, Tag aus. Bei Bauern kommt sie nachts unter, übernachtet in nassen Klamotten auf dem Scheunenboden. Sie hofft auf Essen und Trinken. Es ist erschreckend zu lesen, wie verzweifelt die Autorin ihren Hunger und Durst in dem Notizbuch festhält. Es ist das Hauptthema im zweiten Teil.

Sie berichtet außerdem von beschwerlichen Straßen, von Luftangriffen und von zynischen und gewalttätigen Soldaten. Aber auch ihre Gefühlswelt beschreibt sie so wie in einem Tagebuch. Auf den letzten Seiten des Büchleins bricht sogar ein hoffnungsvollerer Ton an und die Autorin beschreibt Momente der Freude, wie zum Beispiel den Moment als sie realisiert, dass die deutschen Soldaten weg, dafür aber amerikanische und russische bei ihnen sind. Die letzte Seite des Büchleins fehlt, der Text reißt ab.

Am Ende wirft das Notizbuch immer noch Fragen und Unklarheiten auf, aber zumindest die Frage nach dem Inhalt kann ich hier beantworten. Interessant ist die Vielfalt der Textformen des Notizbuches. Von Gebet über Brief, bis hin zu Kalender und Erinnerungsbericht könnte die Verfasserin das Büchlein als Tagebuch genutzt haben. Jedoch ist auch völlig unklar, ob sie die Textpassagen Stück für Stück oder auf einmal geschrieben hat. Insbesondere im zweiten Teil wurde ohne Punkt und Komma, ohne Absätze und erkennbare Pausen geschrieben.

Meine Vermutung ist, dass sie die Texte kurz nach ihrer Befreiung niedergeschrieben hat. Der Brief an die Schwester scheint auf der Heimreise nach Polen entstanden zu sein, der Kalender und der Erinnerungsbericht vom Todesmarsch und der Befreiung scheinen ebenfalls nachträglich geschrieben zu sein. Wo die Verfasserin das Notizbuch her hatte, lässt sich von mir nicht vermuten. Und leider sind auch die Zeit- und Ortsangaben unklar und nicht wirklich überprüfbar.

Die Frage nach der Autorinnenschaft konnte ich ebenfalls nicht abschließend klären. Scheinbar hat die Gedenkstätte noch weitere Objekte aus Natalia Malinowskas Nachlass erhalten, die von anderen Häftlingen stammen. Sie hat offensichtlich bei den weiblichen Häftlingen eine Art Vermittlerinnenrolle eingenommen, Nachlässe gesammelt und diese Objekte später an die Gedenkstätte übergeben. Eventuell stammt dieses Buch ebenfalls von einer ihrer Mithäftlingen.

Notizheft  | Papier,Schnur, Blei- /Kopierstift | 8,5×9,5 cm  | GuMS/SBG Inventarnummer 95.00107.2

 

Autorin: Bernadette Schendina.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines Projektseminars in Kooperation mit der FU Berlin/ Public History im Wintersemester 2020/21.

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