ObjektBiografie*14: Zu einer Gemeinschaft zu gehören

Ein Totenkopf, von Vögeln umschwirrte Bäume, eine Baracke mit der großen Nummer „27“ und ein Winkel mit eingerahmter Häftlingsnummer. Darüber der große Schriftzug „RAVENSBRÜCK“. Das Stoffemblem ist nicht größer als eine Handfläche und doch ist es voller Symbolik.

Das Emblem wurde 1959 an die Gedenkstätte gestiftet und spätestens seit den 1980er-Jahren im österreichischen Gedenkraum ausgestellt. Für die Anfertigung wurden drei verschiedene Farben Garn verwendet und so ist das Emblem blau, grün-grau und gelb. Die Auswahl und Anordnung der Symbole haben mich direkt interessiert – welche Bedeutung könnte einem solchen Artefakt zugekommen sein? Aus welchem Grund hat jemand sich die Mühe gemacht, die detailreichen Stickereien anzufertigen und wie ließ sich das im Lager machen? Wurde es tatsächlich getragen?

Emblem. Foto: MGR/SBG V729 D5

Emblem. Foto: MGR/SBG V729 D5

Die Form des Emblems erinnert an ein Wappenzeichen oder Schild. Wappen sind normalerweise Darstellungen der Zugehörigkeit, zum Beispiel zu einer Familie („Familienwappen“). Sie werden als Zeichen von Stolz über diese Zugehörigkeit gezeigt und getragen. Es liegt also nahe, dass sie auch in Ravensbrück als positive Identifikation mit einer (Schicksals-)Gemeinschaft angefertigt wurden.

Da auf dem Emblem sowohl eine Häftlingsnummer als auch eine Baracke angegeben sind, liegt es nahe, dass es die Zuordnung eines Häftlings zu einer Barackengemeinschaft symbolisiert. Der Winkel mit Häftlingsnummer steht für die Individualität der Person, jedoch reduziert auf die zugeteilte Nummer und den Winkel, der den Haftgrund anzeigte. Daher kann das Emblem als Aneignung der Instrumente der Entmenschlichung und, ins Gegenteil verkehrt, als Selbstbehauptung gelesen werden („reclaim“). (1) Ein Teil der Symbole auf dem Emblem stellt also den Zusammenhang von Individuum und Gemeinschaft, genauer gesagt: die Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft, dar.

Der Totenkopf mit gekreuzten Knochen ist üblicherweise das Zeichen für „Tod“ oder „Todesgefahr“, ein Symbol also, das im Kontext des Konzentrationslagers für alltägliche Erfahrungen steht. Die Bäume mit darüber fliegenden Vögeln wurden von einer/m ehemalige/n Inhaftieren in einem Interview gegenüber dem Kulturen Museum in Lund in einem Zusammenhang mit dem Wald hinter dem Konzentrationslager gesetzt, in dem viele Gefangenen erschossen wurden, was die Häftlinge beim Appellstehen hörten. (2) Es ist jedoch auch möglich, dass „Wald“ und „Vogel“ im Sinne der Assoziationen mit „Leben“ und „Freiheit“ Bedeutung erhielten. In der ersten Interpretation würden Totenkopf und Wald für die allgegenwärtige Gefahr für Leib und Leben im Alltag des Konzentrationslagers stehen. In der zweiten Interpretation kontrastieren sich Totenkopf und Wald: Tod und Leben werden zu „Überleben“.

Es gibt nur wenige konkrete Informationen über das Emblem. Es ist nicht sehr abgewetzt, also wurde es vermutlich nicht getragen – sowieso ist es fast ausgeschlossen, dass es offen auf die Kleidung genäht werden konnte. Es ist kein Name erhalten, dem die eingestickte Häftlingsnummer zugeordnet werden kann. Es ist nur nachvollziehbar, dass die Nummer im Konzentrationslager Ravensbrück im Sommer 1943 erstmals für eine Frau vergeben wurde, die möglicherweise in einem gemischten Transport aus Polen kam. Aber da der Winkel gelb aussieht und das Emblem im österreichischen Gedenkraum hängt, ist auf den ersten Blick auch  möglich, dass das Emblem einer jüdischen Frau aus Österreich zuzuordnen wäre.

Emblem von Elzbieta Klukowska, geb. Plaskowicka. Foto: Dr. Sabine Arend, MGR/SBG V6396 B3.

Emblem von Elzbieta Klukowska, geb. Plaskowicka. Foto: Dr. Sabine Arend, MGR/SBG V6396 B3.

In der Recherche bin ich jedoch auf Hinweise gestoßen, die für die erste Theorie sprechen. Denn es gibt weitere Artefakte von erstaunlicher Ähnlichkeit im Depot der Gedenkstätte Ravensbrück und dem Museum Kulturen in Lund, Schweden. Insgesamt konnte ich drei weitere Embleme mit derselben Form und genau derselben Symbolsprache finden. Besonders interessant sind ihre Farben: Die Symbole sind – in Unterschied zu dem hier untersuchten Emblem – jeweils in den Farben rot, schwarz und grün-grau auf den Stoff gestickt.

Die Ähnlichkeit dieser vier Embleme ist so offenkundig, dass sie einen Bezug zueinander haben müssen. So wäre es möglich, dass sie entweder in Absprache angefertigt wurden oder aber sich gegenseitig als Vorlage für eine Anfertigung dienten. Möglich ist auch, dass sie von derselben Frau für die jeweiligen andere Frauen angefertigt wurden. Auch dass die Häftlingsnummern scheinbar mit anderem Garn erst im Nachhinein, oder im Falle des einen Emblems gar nicht, hinzugefügt wurden, deutet daraufhin, dass sie von einer Frau als Vorlage angefertigt wurden, um dann anschließend individualisiert zu werden. Daher wurde vermutlich auch das Stoffemblem, das im österreichischen Gedenkraum zu sehen ist, mit denselben Farben gestickt – das gelbe Garn wäre dann ursprünglich rot und das blaue ursprünglich schwarz gewesen. In den 60 Jahren, die das Objekt mit einfachem Kleber auf Pappe geklebt und nur von Plexiglas geschützt im österreichischen Gedenkraum ausgestellt wurde, sind die Farben wohl einfach ausgeblichen. Dadurch ändert sich die ursprüngliche Farbe des scheinbar gelben Winkels in einen roten Winkel, also der Kategorisierung als politischer Häftling.

Emblem von Stanislawa Schönemann-Łuniewska. Foto: Dr. Sabine Arend. MGR/SBG V725 D5.

Emblem von Stanislawa Schönemann-Łuniewska. Foto: Dr. Sabine Arend. MGR/SBG V725 D5.

Sowohl die zwei anderen Embleme im Depot der Gedenkstätte Ravensbrück als auch das in Lund haben im Zusammenhang mit dem roten Winkel ein „P“ aufgestickt. Sie sind den Polinnen Stanislawa Schönemann-Łuniewska, Elzbieta Klukowska geb. Plaskowicka und Stanislawa Plaskowicka zuzuordnen. Über alle drei Frauen lassen sich Informationen finden. So ist klar, dass Elzbieta und Stanislawa Plaskowicka beide in jeweils der Baracke untergebracht waren, die auf dem Emblem als Nummer verewigt wurde, der Baracke 17. Diese Baracke galt laut der Aussage einer Überlebenden als „gute“ Baracke (3), in der die Überlebenschancen höher waren. Eine positive Identifikation mit der dort untergebrachten Schicksalsgemeinschaft ist also wahrscheinlich. Als weitere „gute“ Baracke galt die Baracke 13, die auf dem Emblem von Stanislawa Schönemann-Łuniewska angegeben ist. Es gibt viele Aussagen über ihre Funktion als Blockälteste. So wird sie als „fürsorglich“ und als „Mutter“ bezeichnet, und es wird beschrieben, wie sie ihre Funktion nutze, um mehreren Frauen das Leben zu retten. (4) Als Kolonnenführerin im Kunstgewerbe hatte sie außerdem Zugang zu den Materialien, die für die Herstellung der Embleme notwendig waren. (5) Vermutlich war Stanislawa Schönemann-Łuniewska in der Baracke 13 untergebracht, wie auf ihrem Emblem eingestickt ist. Sie scheint einen wichtigen Teil für eine positive Identifikation mit dieser Baracke geleistet zu haben.

Auch die unbekannte Frau, der das hier untersuchte Emblem gehörte, war vermutlich in der Baracke untergebracht, deren Nummer eingestickt ist: Die Baracke 27. Im Gegensatz zu Baracke 13 und 17 wurde Baracke 27 von der oben schon erwähnten Überlebenden als „schlechte“ Baracke bezeichnet, als ein Ort, an dem die Frauen besonders gelitten haben. Während es im Falle von Baracke 13 und 17 naheliegt, die Zugehörigkeit zu dieser Schicksalsgemeinschaft mit Stolz auszudrücken, erscheint es im ersten Moment für Baracke 27 weniger plausibel. Allerdings lässt auch eine Schicksalsgemeinschaft, die unter (besonders) schlechten Bedingungen existiert, eine positive Identifikation zu, insbesondere, wenn man die Symbolsprache als Ausdruck des „Überlebens“  oder „Überlebt habens“ liest.

Vieles, das allermeiste sogar, ist in Bezug auf das verblichene Emblem ungewiss. Es lässt sich nicht mehr nachvollziehen, wer es herstellte oder besaß und in welchem Verhältnis die Frauen standen, zu denen diese sehr ähnlichen Embleme gehören. Es ist auch nicht klar, ob es im Lager oder nach der Befreiung angefertigt wurde. Für erstere Variante spricht die Ähnlichkeit mit anderen Emblemen, die von Frauen aus anderen Baracken in Ravensbrück stammen und die Möglichkeit, dass sie gemeinsam angefertigt wurden. Für zweitere Variante spricht jedoch, dass eine positive Identifikation im Nachhinein, also im Sinne des „Überlebt habens“, näher liegt.

(1) Vgl.: Johanna Bergquist Rydén: „When Bereaved of Everything: Objects from the Concentration Camp of Ravensbrück as Expressions of Resistance, Memory, and Identity”, in: International Journal of Historical Archaeology, 2018, Vol. 22 (2017), S. 511–530. S. 16.
(2) Museum Kulturen in Lund, CARLOTTA Databasen, Objekt: KM 88874 „tygmärke“.
(3) Rydén: „When Bereaved of Everything”, S. 16.
(4) Ursula Winzka: „Die Werte siegten: Erinnerungen an Ravensbrück“, (Arbeitsübersetzung), Original: Gdansk: Wydan, 1985. S. 161.
(5) Winzka: “Die Werte siegen”, S. 270.

 

Emblem |  Stoff, Garn | 7×6 cm| Depot MGR  V729 D5

Zur Autorin:
Josephine Eckert hat einen Bachelorabschluss in Philosophie und Geschichte der Universität Potsdam und studiert derzeit den Masterstudiengang Public History an der Freien Universität Berlin. Außerdem ist sie als wissenschaftliche Hilfskraft am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in den Bereichen Direktion und Public History tätig.

 

 

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