Im Depot der Gedenkstätte Ravensbrück gibt es ein aufwendig gefertigtes Schachspiel. Es gehörte der Ärztin und Kommunistin Doris Maase und erzählt von Widerstand und Selbstbehauptung.
In einem kleinen Kunstledertäschchen gibt es eine flache Spielfigur mit dem aufgemalten Gesicht eines Mädchens beziehungsweise einer Frau, dass der Betrachterin oder dem Betrachter freundlich entgegenblickt. Die kleine Figur ist Teil des Schachspiels, das in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück verwahrt wird.
Das 14 x 14 cm große Schachbrett wurde wahrscheinlich aus schwarzem Kunstleder gefertigt und ist in der Mitte faltbar. Auf der Innenseite ist das typische Schachbrettmuster aus abwechselnd 64 weißen und schwarzen Quadraten zu sehen. Die Seitenränder des Spiels sind mit Bast umsäumt, mit dem in einer Ecke der Rückseite auch der Name „DOLI“ eingestickt wurde. Zu dem Schachbrett gehört noch das besagte Täschchen mit kleinen circa 2 cm hohen und unten dreiecksförmig spitz zulaufenden Schachfiguren aus flachem Kunststoff. Diese können in schmale Schlitze auf dem Spielfeld gesteckt werden. Ein Spielfigurensatz ist weiß, der andere gelb. Je nach Spielfigur, also ob Bauer, Turm, Läufer, Springer, Dame oder König, wurden die Figuren in unterschiedlichen Formen gestaltet und zum Teil auch mit Gesichtern versehen.
Das Schachspiel wurde 1959 von Doris Maase an die gerade entstandene Mahn- und Gedenkstätte übergeben. Maase war eine deutsche Ärztin und Kommunistin, und sie war Überlebende des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück. Aufgewachsen in einer Arztfamilie, begann sie 1929 selbst ein Medizinstudium in Berlin und engagierte sich parallel im Roten Studentenbund, einer antifaschistischen Studierendengruppe. 1933 wurde sie aufgrund ihrer politischen Einstellung und jüdischen Herkunft väterlicherseits der Universität verwiesen. Sie ging in die Schweiz, um dort ihr Studium zu beenden. Als sie 1934 mit ihrem Mann nach Düsseldorf zurückkehrte, wurde sie bereits kurze Zeit später wegen der Unterstützung der KPD im Untergrund inhaftiert. Sie verbüßte drei Jahre im Zuchthaus und gelangte anschließend in „Schutzhaft“ im KZ Lichtenburg. 1939 wurde sie in einem der ersten Transporte nach Ravensbrück verlegt. Zwar ist nicht überliefert, wie, wann oder wo das Schachspiel genau gefertigt wurde; doch die in Ravensbrück ansässige Produktion der „Gesellschaft für Textil- und Lederverwertung GmbH“ macht die Herstellung an diesem Ort wahrscheinlich.
Ein Schachspiel als Artefakt aus einem Konzentrationslager? Wie passt ein Spiel, das typischerweise mit Vergnügen und sorglosem Zeitvertreib assoziiert wird, zusammen mit der Extremsituation der Lagerhaft? Beides scheint auf den ersten Blick unvereinbar – tatsächlich war das Schachspiel von Doris Maase jedoch nicht das Einzige seiner Art. Der Historiker Edmund Bruns hat erforscht, dass in verschiedenen Konzentrationslagern Schach gespielt wurde. In seiner Untersuchung hat er Schachspiele hauptsächlich bei männlichen Häftlingen ausfindig gemacht.(1) Spannend ist aber, dass es auch bei den im KZ Ravensbrück inhaftierten Frauen mindestens noch ein weiteres Schachspiel gegeben hat.
Spielen nahm unter den Bedingungen von Verfolgung und Vernichtung Dimensionen an, die von einem Spiel zunächst nicht erwartet werden. In einer Umgebung, in der die KZ-Häftlinge permanent Angst und Unmenschlichkeit ausgesetzt waren, suchten sich viele Beschäftigungen, durch die sie der Welt um sie herum eine Zeitlang entfliehen konnten. Gerade Spiele, als Mikrokosmos geordneten und regel(ge)rechten Handelns, boten sich dafür an. Nicht Wenige wendeten sich dem Schachspiel zu. Mitunter lag das daran, dass es einfach und aus den verschiedensten Materialen hergestellt werden konnte. Figuren wurden zum Beispiel aus Brot, Holz oder Stoffresten angefertigt. Als Spielbrett diente oft ein Tisch, eine Decke oder der Fußboden. Einige beschäftigten sich auch nur in Gedanken damit und spielten in ihrem Kopf bekannte Partien nach. Für einige Inhaftierte entwickelte sich das Schachspiel zu einer Form des Protests gegen den Terror. Schachspielen wurde zu einer Initiative der Verteidigung und des Erhalts des eigenen Ichs: Es ermöglichte dem Spieler und der Spielerin, eine Brücke zu bauen, die über die Realität hinweghalf, um die Person bleiben zu können, die er oder sie vor der Freiheitsberaubung war. Es schuf einen Verteidigungsspielraum unter strengster Illegalität, da die SS jede Form des Widersetzens unterband, die allein dem Besitz eines Spiels und dem Wunsch des Erhalts der eigenen Individualität innewohnte. Aus diesem geistigen Widerstand, konnten sich innerhalb bestimmter Haftgruppen wiederum auch weitere, organisierte Formen von Widerstand ergeben.
Widerstand und Selbstbehauptung waren auch im Leben von Doris Maase von zentraler Bedeutung. In Ravensbrück gehörte sie zur Gruppe der politischen Häftlinge und war aufgrund ihrer medizinischen Ausbildung als Häftlingsärztin im Krankenrevier eingesetzt. In dieser Position gelang es ihr immer wieder, sich solidarisch für andere Inhaftierte einzusetzen und sich den Anweisungen der SS zu widersetzen. So konnte sie zum Beispiel falsche Krankheitsbescheinigungen ausstellen und Medikamente stehlen, um das Leben ihrer Mitgefangenen zu schützen. Auch außerhalb des Reviers setzte sie alle Kraft daran, ihren Genossinnen Mut zu machen:
„Wir haben versucht, die Frauen, die resignierten, aufzurichten, haben gesagt: ‚Komm, du mußt dir das Haar anständig kämmen, halt den Kopf hoch, du glaubst nicht, wieviel das ausmacht. Du atmest dann richtig.‘ Und so weiter. Die Überlebenschance war, die Moral hochzuhalten. […] Ja, es gibt zwei Dinge, die einen aufrecht halten: die Gruppe – und das Bewußtsein, daß man die richtige Überzeugung hat.“(2)
Für ihre Hilfeleistungen genoss sie hohes Ansehen und pflegte besonders innerhalb des Solidarnetzwerks der politischen Häftlinge enge Freundschaften – ein ebenfalls wichtiges Element der Selbstbehauptung im Lageralltag. Viele Überlebende haben sie gut in Erinnerung, so auch Lina Haag, laut der Doris Maase auch der Balanceakt zwischen Widerstand und Arrangement bemerkenswert gut gelungen sei. Als sogenannter Funktionshäftling befand sie sich ja in einer andauernden Gratwanderung zwischen dem Kampf um das eigene Überleben, der erwarteten Funktionserfüllung gegenüber der SS und der Solidarität mit anderen Häftlingen.
Im Fall ihres Schachspiels bleiben einige Fragen offen: Fertigte sie es selbst an oder erhielt sie es als Geschenk für ihre Hilfeleistungen? Spielte sie damit oder hielt sie es als Erinnerungsstück versteckt? All das ist leider nicht bekannt. Auch über die Bedeutung, die das Spiel für sie hatte, können nur Mutmaßungen angestellt werden. So ist es durchaus möglich, dass das Schachspiel auch ihr half, den Lageralltag zu überstehen und ihr Kraft gab. Kraft dafür, an ihren Werten festzuhalten und sich ihre Identität zu bewahren und sich für ihre Mitgefangenen einzusetzen.
Im Juli 1941 wurde sie aus dem KZ entlassen. Nach 1945 setzte sie ihr politisches Engagement fort und bemühte sich in den 1960er und 1970er Jahren aktiv um den Zusammenhalt der Überlebenden sowie die Erinnerung an die Toten in der Lagergemeinschaft Ravensbrück und dem Internationalen Ravensbrück-Komitee. Doris Maase verstarb am 20. September 1979 in Bayern.
Wie auch Doris Maase sich für weiteres Erinnern an ihre Kameradinnen einsetzte, so hält auch ihr Objekt die Erinnerung an sie wach und steht symbolisch für ihre von Widerstand geprägte Geschichte. Ihr mittlerweile fragiles Schachspiel wurde bereits mehrfach in der Gedenkstätte ausgestellt.
(1) Vgl. Edmund Bruns, Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Münster 2003.
(2) Doris Maase im Gespräch mit Erika Runge, zit. nach: Barbara Bromberger u.a., Schwestern, vergeßt uns nicht. Frauen im Konzentrationslager: Moringen, Lichtenburg, Ravensbrück 1933-1945, Frankfurt 1988, S. 65.
Schachspiel | 1939-1941 | Kunstleder, weitere Kunststoffe |14 x 14 cm; Figuren: 5 x 2 cm| MGR/SBG V 609 D3
Zur Autorin:
Anne Füllenbach studiert im Master Public History an der FU Berlin. Sie arbeitet als studentische Hilfskraft in der Redaktion der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“.
Liebe KollegInnen,
im Jahr 1995 sprach ich mehrere Male mit Klaus Maase, dem Witwer von Doris M. in seiner Wohnung in Bad Soden. In diesem Kontext übergab er mir ja den Nachlaß, den ich dann der MGR/Archiv übergab. Klaus Maase wusste zu berichten, dass Doris nie Schach gespielt hat. Über die Herkunft des Schachspiels wusste er auf Nachfragen leider nichts mehr.
Mit besten Grüßen CW
Liebe Christl Wickert,
vielen Dank für den Hinweis! Das wird gleich notiert.
Viele Grüße
Christiane Heß