„Objekte als Vermittler der Vergangenheit“ – Interview mit den Projektleiterinnen

Mitte Februar 2017 ist das Forschungsprojekt gestartet. Im nachfolgenden Interview geben die Projekleiterinnen aus den beiden kooperierenden Instiutionen Auskunft über das Projekt, sowie die mit ihm verbundenen Chancen und Herausforderungen in den nächsten drei Jahren. Dr. Insa Eschebach ist stellvertretende Direktorin der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück; Prof. Ruth Keller ist Professorin im Studiengang Konservierung und Restaurierung/Grabungstechnik sowie im MA-Studiengang Konservierung und Restaurierung an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Sie ist verantwortlich für die Studienschwerpunkte „Moderne Materialien und Technisches Kulturgut“ (Bachelor) sowie „Moderne Materialien und Industrielles Kulturgut“ (Master).

Wie ist die Idee für das Projekt entstanden? Warum stehen gerade die Objekte im Fokus der Forschungen?

Insa Eschebach: Gedenkstätten an  Orten ehemaliger Konzentrationslager stehen mit ihren Sammlungen heute in zweifacher Hinsicht vor Problemen: Einerseits sind die Provenienzen der Objekte zu großen Teilen unbekannt. Als ehemalige Häftlinge in den 1950er und 1960er Jahren  damit begannen, ihre Dinge aus der Lagerzeit den Gedenkstätten zu übergeben,  kam diesen Objekten in erster Linie eine Beweisfunktion zu: Die Dinge wurden also weniger als Museumsgut aufgenommen und erfasst – dazu fehlte den frühen Gedenkstätten auch das Fachpersonal – , sondern wurden zur Illustration der Lagererfahrungen, als Zeugnisse nationalsozialistischen Unrechts beziehungsweise als Dokumente des Widerstandes genutzt und ausgestellt. Woher sie im Einzelnen kamen, warum und von wem aus welchen Stoffen die Dinge gefertigt wurden, war in den ersten Nachkriegsjahrzehnten weniger von Interesse.
Neben der notwendigen Proveninenzforschung stehen wir andererseits aber auch  vor großen restauratorischen Problemen: Zahlreiche Stücke fertigten Häftlinge damals aus Stoffen, die aus der Rüstungsproduktion stammten und über die wir heute wenig wissen. Gerade auch die aus Plastik geschnitzten Objekte – Souvenirs, Glücksbringer oder auch Kultobjekte, die aus Zahlbürstenstilen gefertigt wurden – sind heute von Zerfall bedroht. Es fehlen uns Kenntnisse, wie im Einzelnen diese Dinge zu konservieren und damit für die Zukunft zu retten sind.

Wodruch kam die Kooperation mit der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten zustande?

Ruth Keller: Der Studienbereich Moderne Materialien und Technisches Kulturgut des BA-Programms Konservierung und Restaurierung der HTW hatte sich im Rahmen eines Semesterprojekts 2014 bereits mit der Erhaltung von 20 Zahnbürsten und kleinen kunsthandwerklich gefertigten kleinsten Artefakten, sogenannten Miniaturen, aus dem Bestand der Gedenkstätte Ravensbrück auseinandergesetzt. Frauen im Lager hatten die Kunststoffe und Metalldrähte dafür während ihrer Zwangsarbeit aus den Produktionsstätten unter Lebensgefahr abgezweigt oder ihre als persönliche Gegenstände erlaubten Zahnbürsten aus Cellulosenitrat dafür eingesetzt. Auch weitere Materialien wie Knochen, Horn, Leder und Textil waren in den Artefakten verarbeitet worden. Es zeigte sich, dass sowohl die Identifikation und Herkunft der Materialien als auch die komplexen konservatorischen Maßnahmen im Rahmen eines Semesterprojekts nur rudimentär thematisiert werden konnten. Eine Fortsetzung der Arbeiten schien wünschenswert.

Welche Chancen verbinden Sie mit dem explizit interdisziplinären Blick auf die Erforschung der Artefakte? Wo greifen die drei Teilprojekte ineinander?

Insa Eschebach: Das Forschungsprojekt reagiert auf die beschriebene Notlage, indem erstens Materialforschung betrieben wird und darauf fußend Konservierungsstrategien entwickelt werden sollen. Darüber hinaus entstehen sogenannte Objektbiografien, die Wissensbestände bündeln und den Provenienzen nachgehen sollen. Schließlich geht es auch um die Bedeutungsgeschichte der Artefakte: Zu welchen Zwecken produzierten Häftlinge Dinge, welche sozialen Funktionen und (populär-)kulturellen Traditionen sind den Objekten  eingeschrieben und schließlich: Wie verlief die Überlieferungsgeschichte nach der Befreiung 1945, wie gelangten die Objekte in die Sammlungen der Gedenkstätten, zu welchen Ausstellungszwecken wurden sie hier genutzt? Es gibt in der Tat unglaublich viele unbeantwortete Fragen.

Ruth Keller: In diesem Projekt ist der enge und gleichberechtigte Austausch der Disziplinen selbstverständlich. Die Artefakte in ihrer sinnlichen Wirkung stehen im Fokus, um die gewohnten Blickrichtungen der historischen Forschung zu erweitern und um auf diese Weise auch andere gesellschaftliche Schichten/Besucher/Interessierte zu erreichen.
Wie ist das zu verstehen? In der kultur-, sozial- oder auch materialhistorischen wissenschaftlichen Bearbeitung sind die Artefakte Teil einer an den Besucher gerichteten Botschaft. Dieser mag die verbalisierten Inhalte partiell in seine eigenen Gedanken aufnehmen. Die Artefakte dienen in diesem Zusammenhang als Quelle und Beleg einer übergreifenden historischen Information.
Die Chance dieses nun begonnenen fachübergreifenden Projekts liegt darin, dass die Objekte selbst zu den Vermittlern der Informationen aus der Vergangenheit werden: Wenn ein Betrachter ein Objekt in seiner durch die Form umgrenzten Materialität auf sich einwirken lässt, erlebt er es sinnlich. Ähnlich wie Musik versetzen die vibrierenden optischen Reflexionen der Oberflächen der Materialien die wenig geschützte emotionale Ebene eines Menschen in Schwingungen. So findet eine verbal nicht fassbare Kommunikation zwischen Artefakt und Betrachter statt.
Der Besucher mag so etwas ahnen von den „Territorien des Selbst“ (Goffmann 1974) einiger Artefakte und von der Geste des Schenkens anderer, mit denen sich die Hersteller vielleicht unter den Bedingungen des Lagers Handlungsspielräume geschaffen hatten.

Eine klärende Annäherung an die unterschiedlichen Bedeutungsebenen der Artefakte aber ist nur in der Zusammenführung der drei Teilprojekte möglich:

  • Die Objektbiografien, die Hersteller und den Sammlungskontext weiträumig erschließen,
  • die Beziehungen und Netzwerke, in denen es genderspezifisch um Interaktion und um kulturelle Praktiken geht, die in den Objekten materialisiert vorliegen,
  • sowie Materialität und Materialgeschichten, die sich den Entstehungszusammenhängen und dem Bedeutungswandel der Materialien widmen und sich um ihre Langzeiterhaltung bemühen.

Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse kann der Vergleich der Artefakte aus dem Männer-KZ Sachenhausen mit denen des Frauen-KZ Ravensbrück liefern?

Insa Eschebach: Dinge, die in den Konzentrationslagern von Häftlingen als Auftragsarbeit oder auch heimlich angefertigt wurden, sind stets Ausdruck und Manifestation sozialer Beziehungen. Selbst etwas zu schaffen und zu gestalten, diente den Häftlingen als Strategie, den Zwangsverhältnissen des Lagers entgegenzutreten. Beispielsweise hatte Selma van de Perre aus den Niederlanden während ihrer Zwangsarbeit bei Siemens einer Mitgefangenen, die an einer Maschine Drähte vernickelte, darum gebeten, ihren  Blechlöffel zu vernickeln: „Die Sache mit den Löffeln mag sich lächerlich und unwichtig anhören,“ erzählte sie uns. „Aber wir besaßen ja nichts Schönes, und so nutzten wir jede Möglichkeit, um die Dinge in unserer Umgebung ansehnlicher zu gestalten. Es machte einen Riesenunterschied, wenn man einen schönen Gegenstand besaß, den man anschauen konnte.“ Nun bestehen ja große Unterschiede in den Sozialisationsmustern europäischer Männer und Frauen. Es stellt sich die Frage, ob sich diese Geschlechterdifferenz auch im sozialen Miteinander im Kontext der Häftlingsgesellschaften in Ravensbrück und Sachsenhausen manifestiert oder auch nicht. Die Artefakte können davon berichten.

Welche Besonderheiten oder Herausforderungen bringen die technischen Untersuchungen an einzigartigen materiellen Zeugnissen der nationalsozialistischen Konzentrationslager mit sich?

Ruth Keller: Die erwähnte nonverbale Kommunikation wird auf Seiten des Artefakts durch die interdisziplinäre Forschungsleistung bzw. durch die Ermittlung der kultur- und geistesgeschichtlichen Kontexte verstärkt werden: Die Erforschung der Herkunft der Materialien ist dem spezifischen historischen Zusammenhang von produktiver Zwangsarbeit in einem der Lager oder seiner Außenstellen zugeordnet. Das materialhistorisch Besondere wird nur im Kontext der damaligen industriellen Produktion anschaulich. Bearbeitungsspuren auf den Materialien zeugen von der Umformung zu Artefakten durch Zwangsarbeiter oder Zwangsarbeiterinnen und von der späteren Nutzung und Aufbewahrung.
Das Fachgebiet der Konservierung und Restaurierung schließlich kann das Objekt mit Hilfe dieser Kenntnisse so konservieren, dass Materialität und Form vom Betrachter sensibel wahrgenommen werden können.

Warum ist das Projekt auch für den dauerhaften Erhalt der Sammlungsobjekte wichtig?

Ruth Keller: Ehe die auf die Wahrnehmung ausgerichtete sensible konservierungs- und restaurierungswissenschaftliche Leistung erbracht wird, ist es die Pflicht des Faches, den Langzeiterhalt der Materialien anhand neuester technologischer Kenntnisse zu planen. Abbauvorgänge sind nicht immer zu stoppen, müssen aber so weitreichend wie möglich verlangsamt werden. Eine nach aktuellem Stand der Technik bestmögliche Aufbewahrung wird angestrebt.

Wie kann das Forschungsvorhaben auch über die Projektlaufzeit hinaus wirken?

Insa Eschebach: Das wird sich heraus stellen. In diesem Projekt geht es, wie auch in unserer Arbeit insgesamt, nicht nur um das Aufhäufen von Kenntnissen, sondern um einen dynamischen Prozess von Bildung und Entfaltung. Bei der Arbeit unseres Teams mit den Objekten handelt es sich ja um eine Art Interaktion, bei der neue, noch nicht dagewesene  Ideen entstehen. Wichtig ist, dass wir die Artefakte noch genauer  kennen und schützen lernen. Diese Kenntnisse werden unseren künftigen Ausstellungen wie auch unserer Bildungsarbeit zu Gute kommen.

Ruth Keller: Die Artefakte entsprechen dem allgemeinen Bedürfnis des Menschen, sich über seine eigenen physischen Grenzen hinaus in der Welt zu verankern, sich „Territorien des Selbst“ zu erobern. Diese Erweiterung des Selbst war in der (für uns alle, die dies selbst nicht durchleben mussten, kaum vorstellbaren) extremen Not und Repression des Konzentrationslagers elementar ja lebenserhaltend. Diese Erkenntnis aus dem Verhalten in menschlichen Grenzsituationen kann auch zukünftig kommuniziert werden.
Es mag aus dieser Einsicht heraus mit dem Projekt bildungs- und gesellschaftspolitisch daran erinnert werden, dass aktive identitätsstiftende Leistungen in jeder Lebenssituation notwendig sind und Menschen, die einzig als Konsumenten funktionieren, Mangel leiden, möglicherweise an Glücksgefühl. „Territorien des Selbst“ als Gegenentwurf zu Gefühl, vom Leben betrogen zu werden? Könnte das eine Wirkung sein? Nach Abschluss des Projektes werden wir uns zudem fragen, ob sich die lebenserhaltende Erweiterung des Selbst bei Männern und Frauen von damals und heute ähnlich sind. Oder hat sich durch die allmähliche Änderung der sozialen Rollenverteilung in der existenziellen Selbstvergewisserung des Einzelnen Wesentliches verändert?
Konservierungswissenschaftlich wird ein Fortschritt in der Langzeiterhaltung dieser diffizilen Materialien erhofft.

Möchten Sie noch etwas ergänzen?

Insa Eschebach: KZ- Gedenkstätten wie Ravensbrück und Sachsenhausen sind heute zeithistorische Museen mit humanitären Funktionen. Bei diesem Forschungsprojekt handelt es sich um einen wichtigen Schritt zur Professionalisierung unserer Sammlungsbestände. Ich bin der VW-Stiftung ausgesprochen dankbar dafür, dass sie uns dieses Projekt ermöglicht.

Ruth Keller: Unterstützung in der Materialanalyse erhält das Projekt über die an der HTW gegebenen Möglichkeiten hinaus durch das DBM, Deutsches Bergbau-Museum Bochum, das Kooperationspartner im Projekt ist. Weiter werden Referenzmaterialien aus diversen Sammlungen und Archiven eine Rolle spielen, allen voran aus der SDTB, der Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin. Dort finden sich Sammlungsgegenstände aus einigen der thematisierten industriellen Produktionszweige. Nur mit dieser Unterstützung können die noch wenig untersuchten industriellen Materialien als relevante Sachquelle für die historische Forschung hinzugezogen werden.
Durch die interdisziplinäre Einbindung auch des Kommunikationsdesigns der HTW erhofft sich das Projektteam von der kommunikativen Visualisierung des Projekts, dass es in erhöhter Weise auf die Sensibilität der Inhalte aufmerksam machen wird.

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