ObjektBiografie*10: „Dafür hat es sich natürlich gelohnt zu leben.“

Die im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftierte Olga Smirnova bekam von einer Freundin einen aus einem Knopf gefertigten Ring geschenkt, den sie im Lager jedoch nicht offen tragen konnte. Welche Bedeutung einem Schmuckstück in einem Konzentrationslager dennoch zu Teil werden konnte, erzählt die Geschichte des rotbraunen Kunststoffrings mit eingravierter Häftlingsnummer.

 

„Ring aus Kunststoff“, V754 D1, Foto: Alina Welp/FU Berlin. MGR/SBG V754 D1

„Ring aus Kunststoff“, Foto: Alina Welp. MGR/SBG V754 D1

„14775“ ist in den rotbraunen Kunststoffring eingeritzt, zwischen den Ziffern ein „R“ in einem Winkel, das Erkennungszeichen für eine russische Inhaftierte im Konzentrationslager Ravensbrück. Die Nummer und das Zeichen machen den Ring zuordbar: Er gehörte der politischen Gefangenen Olga Ippolitovna Smirnova, die am 25. Juli im Jahr 1923 in Leningrad geboren wurde. Im Zweiten Weltkrieg war sie Krankenschwester an der Front. Nach ihrer Gefangennahme durch die Wehrmacht musste sie als Ostarbeiterin auf dem Reichsgebiet Zwangsarbeit leisten. Als Strafe für einen Fluchtversuch vom Zwangseinsatz in den Mauserwerken in Oberndorf am Neckar wurde sie im Oktober 1942 nach Ravensbrück deportiert.

Der Ring wurde im Ravensbrücker Lager von einer mit Olga Smirnova befreundeten Inhaftierten angefertigt und ist heute in der Dauerausstellung der Gedenkstätte zu sehen. Smirnova versteckte ihn zunächst während ihrer Haft im Lager und gab ihn später einem Bekannten, der 1944 an die Ostfront eingezogen wurde, als Lebenszeichen für ihren Vater in der Sowjetunion mit.

Vieles was wir heute über Olga Smirnova wissen, ist dem Umstand geschuldet, dass sie das Konzentrationslager überlebt hat und in Zeitzeuginnen-Interviews über ihr Leben berichtet hat. Diese bilden die Grundlage für unsere Informationen über sie und sind neben einer Veröffentlichung zu Zwangsarbeit für Siemens die Hauptinformationsquelle für diesen Text (1). Über Aspekte, die sie nicht anspricht, können wir nur Vermutungen anstellen, z.B. darüber, welchen persönlichen Wert der Ring für sie hatte. Auch bilden Olga Smirnovas Aussagen keine „historische Wahrheit“ ab, denn Erinnerungen und die Auswahl der erzählten Erinnerungen, die Zeitzeug*innen in Interviews vornehmen, sind subjektiv und von individuellen Erfahrungen geprägt. Weiterhin kann die interviewende Person und ein zeitlicher Abstand zu den erzählten Geschehnissen die Erinnerung von Zeitzeug*innen beeinflussen.

Der Ring erinnert durch seine flache Vorderseite und der darauf befindlichen Gravur an einen Siegelring. Der Grund für die Gravur der Häftlingsnummer in die Vorderseite des Rings bleibt uns unbekannt. Die Vergabe von Nummern an ankommende Gefangene diente dem nationalsozialistischen System als perfide Praxis, die Inhaftierten zu entindividualisieren. Dass Häftlinge in selbst angefertigten Objekten ihre Nummern verewigten, ist kein seltenes Phänomen. In der Sammlung der Gedenkstätte Ravensbrück befinden sich circa zehn andere Ringe mit eingelassener Häftlingsnummer. Die Verewigung der Nummer kann beispielsweise als ein Versuch gewertet werden, die eigene Individualität innerhalb der Häftlingszwangsgemeinschaft wieder zu erlangen. Sich aktiv auf die eigene Häftlingsnummer zu beziehen, kann als ein Akt des Stolzes und der Selbstbestimmung gesehen werden.

Wir können davon ausgehen, dass Olga Smirnova den Ring nicht offen sichtbar an einem Finger trug, da die SS es den Häftlingen verbat, persönliche Gegenstände zu besitzen, geschweige denn, sich mit ihnen zu schmücken. Auch diese Bestimmung sollte den Inhaftierten jegliche Individualität und Erinnerung an ihr vorheriges Leben entziehen. Olga Smirnova hat den Ring im Lager versteckt, daher wird er für sie von persönlicher Bedeutung gewesen sein. Neben dem Ring besaß sie mindestens einen weiteren Gegenstand, und zwar eine kleine Ikone, ein Geschenk ihres Vaters aus der Zeit vor der Haft. In einem Interview berichtete sie, dass es ihr gelang, diese während ihrer gesamten zweieinhalbjährigen Haftzeit u.a. im Saum eines Hemdes zu verstecken.

Der Ring wurde ihr von einer Mitinhaftierten namens Evgenija Plotnik geschenkt. Wie sie diesen fertigte, ist nicht bekannt, die Häftlingsnummer ritzte sie wahrscheinlich mithilfe eines spitzen Gegenstandes in die Vorderseite ein. Auch wie genau sich ihre Beziehung gestaltete wissen wir nicht, jedoch legt die Schenkung des Rings dar, dass im Lager wohlgesonnene Beziehungen zwischen Inhaftierten bestanden. Olga Smirnova pflegte im Lager nicht nur Freundschaften, sondern hatte auch eine „Lagermutter“ namens Amalia Schikorra. Diese half ihr viele Male und war eine Bezugsperson, zu der sie aufsah, schließlich war Smirnova zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung in Ravensbrück erst circa 18 Jahre alt. Später berichtete sie von einigen Freundschaften und engen Verbindungen zu anderen Frauen im Lager. Sie gewährten einander Beistand, unterstützten und halfen einander aus, wenn sie konnten.

Olga Smirnova berichtete davon, dass sie die Möglichkeit gehabt hätte, im Rahmen der Befreiungsaktion des Schwedischen Roten Kreuzes Ravensbrück zu verlassen. Die Chance auf ihr Überleben schlug sie jedoch aus, weil sie dafür ihre Freundinnen im Lager hätte zurücklassen müssen, für die eine Befreiung keine Möglichkeit gewesen ist. Diese Anekdote verdeutlicht, wie stark Smirnovas Bünde zu anderen Frauen in Ravensbrück waren. Sie wurde dann später in der Nähe von Parchim vom Todesmarsch befreit.

In nationalsozialistischen Konzentrationslagern war die Verbindung besonders innerhalb der eigenen nationalen und ethnischen Gefangenengruppe stark, was vor allem auf die gemeinsame Sprache zurückzuführen ist. Der Lagerleitung nützte dieser Umstand dabei, verschiedene nationale Gruppen gegeneinander auszuspielen. Für Olga Smirnova persönlich spielten national konstruierte Grenzen zwischen den Inhaftierten kaum eine Rolle, was sich u.a. auf ihr Menschenbild zurückführen lässt. So sagte sie in einem Interview: „Für mich existieren keine Nationalitäten […] für mich gibt es eine einzige Grenze, gute und schlechte Menschen, die gibt es überall […]. Aber die große Masse, das sind doch gute Menschen.“ (2). Für sie war außerdem von Vorteil, dass sie in ihrer Kindheit Deutsch gelernt hatte und sich daher auch mit anderen inhaftierten Frauen gut verständigen konnte.

So pflegte sie auch mit dem Deutschen Walter Neumann eine solidarische Beziehung. Neumann arbeitete wie sie beim Siemens-Konzern, jedoch war er Zivilarbeiter und kein Zwangsarbeiter. Wie Olga Smirnova in einem Interview erzählte, half er ihr beispielsweise einmal während der Durchsuchung ihrer Kleidung, indem er die zuvor erwähnte Ikone vor ihrer Entdeckung und die Frau dadurch vor einer Prügelstrafe bewahrte. Als Neumann 1944 zur Ostfront eingezogen wurde, gab sie ihm den Ring und eine schriftliche Botschaft als Lebenszeichen für ihren Vater mit. Der Ring verließ also zusammen mit dem Arbeiter das Lager noch bevor Olga Smirnova die Freiheit erlangte. Neumann geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft und konnte die Botschaft mithilfe eines sowjetischen Offiziers an Smirnovas Vater schicken. Nach dem Krieg setzte sie sich im Gegenzug für Walter Neumanns Hilfe für den Kriegsgefangenen ein und versuchte seine Haft durch Pakete, die mit Konsumgütern befüllt waren, zu erleichtern.

Olga Smirnovas Ring fungierte also nicht nur als Lebenszeichen für den Vater und Kommunikationsmittel innerhalb der Familie, sondern ist heute auch verdinglichte Erinnerung an seine Besitzerin und Symbol für die von ihr gepflegten Solidargemeinschaften. Dieser Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung gaben Smirnova Kraft, das Lager und seine Lebensbedingungen durchzustehen. So sagte sie über den Besuch einer Freundin an ihrem Krankenbett: „Dafür hat es sich natürlich gelohnt zu leben.“. (3). Die von Smirnova beschriebene gelebte und erlebte Solidarität innerhalb des Lagers war jedoch durchaus eine Besonderheit und keine alltägliche Erfahrung in einem Konzentrationslager.

Olga Smirnova weist eine sehr außergewöhnliche Lebensgeschichte auf. Das meiste was heute über sie bekannt ist, wissen wir aus den Zeitzeuginnen-Interviews mit ihr. Auch wenn wir nicht alles davon überprüfen können, ist es doch möglich, dass solidarische Verbindungen zu anderen Inhaftierten in Konzentrationslagern bestanden. Der selbstgefertigte Kunststoffring ist der beste Beweis dafür.

 

(1) Internationaler Freundeskreis e.V. für die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück (Hg.), Zwangsarbeit für Siemens im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Kommentierte Berichte von Zeitzeuginnen, Berlin 2017.
(2) Olga S., Interview za335, 08.10.2005, Das Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945“, https://archiv.zwangsarbeit-archiv.de.
(3) Interview mit Olga Smirnova, 16. April 2010, Internationaler Freundeskreis Ravensbrück, Videoprojekt 2010. Einzusehen im Archiv Ravensbrück.

 

Ring  | Kunststoff | um 1942-1945 | 2 x 0,8 cm  |  MGR/SBG V754 D1

 

Zur Autorin:
Alina Welp studiert im Master Public History in Berlin. Außerdem arbeitet sie als studentische Hilfskraft in einem Projekt zu Historischem Lernen in der Migrationsgesellschaft am Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik der FU.

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